So allmählich verstehen wir, was uns Hanspeter Eisendle sagen wollte. Die Südtiroler Bergsteigerlegende hatte gestern Abend auf der Hütte von einem »Charakterberg« gesprochen, als er seinen Gast mental auf den Pflerscher Tribulaun vorbereitete.
Das war Bergführer-Deutsch und hieß in etwa: brüchig, steil, unübersichtlich. Bereits beim Anstieg zur Hütte hatten wir uns gefragt, wo sich durch diese von allen Seiten unnahbare Felsbastion eine Route hindurchmogeln sollte, die den dritten Grad nicht überschreitet.
Jetzt stecken wir mittendrin in diesem Labyrinth aus wolkenkratzerhohen Türmen und dunklen Schluchten und wundern uns, wie unser Bergführer Norbert Weiss hier den Überblick behält.

»Deutlich schwieriger als der Normalweg auf die Große Zinne«, hatten er und Hanspeter gewarnt. Ja, da möchten wir nicht widersprechen. Die Wolkenfetzen, tun ein Übriges, um die mystisch-bedrohliche Stimmung zu verstärken. Im oberen Teil helfen zwei Drahtseile über die Schlüsselstellen hinweg.
Niemand weiß, wer sie vor langer Zeit montierte. Es war ein gewagter Versuch, aus einem echten Kletterberg einen domestizierten Touristenberg zu machen, was zum Glück misslang. Dann stehen wir am Gipfel. Und wundern uns abermals, wie es Watzmann-Ostwand-Ersttäter Johann Grill bereits 1874 hier hoch schaffte, zumal der »Kederbacher« barfuß unterwegs war. Im Gipfelbuch zählen wir die Einträge dieser Saison: noch immer nur zweistellig, dabei ist der Sommer schon bald vorbei. Ein Charakterberg eben.
Gut, dass uns Wirtin Daniela Eisendle (die mit Hanspeter nicht verwandt ist) nach dem fordernden Abstieg mit ihrem himmlischen Mürbteig-Apfelstrudel erstversorgt. Zu sagen, Daniela ist mit der Hütte aufgewachsen, wäre untertrieben. Der Sommer 2024 war ihre 52. (!) Saison.
Bereits als Achtjährige packte sie kräftig mit an, half den Eltern. Im Jahr 2000 übernahm sie dann mit ihrem Mann Fabrizio das CAI-Schutzhaus am Sandessee zu Füßen des Pflerscher Tribulaun. »Südtirol war damals noch nicht so wohlhabend«, erinnert sie sich. Wenn unten im Tal, wo ihre Mama eine Frühstückspension führte, deutsche Touristen kamen, brachten diese gebrauchte Kleidung für die Kinder der Eisendles mit: »Wir müssen wohl sehr arm ausgesehen haben«, lacht Daniela.


Verwechslungen inklusive
Damals markierten die Stubaier Alpen quasi den »Frontverlauf«. Die Lage beruhigte sich erst, nachdem Österreich den UN-Sicherheitsrat eingeschaltet hatte und der Autonomie-Status Südtirols 1972 ratifiziert war.
Man könnte meinen, es liege an dieser besonderen Historie, dass es zwei Hütten gleichen Namens gibt: eine auf Südtiroler Seite, die im Internet unter der Domain tribulaunhuette.com firmiert; und eine zweite mit der Domain www.tribulaunhuette.at,die man vom Nordtiroler Gschnitztal aus erreicht, einem Seitental des Wipptals.
Tatsächlich haben jedoch beide Schutzhäuser so viele Jahre auf dem Buckel und Umbauten hinter sich, dass die im Wortsinn explosiven 1960er-Jahre da nur eine Episode sind. Zwar gehört die I-Hütte dem CAI und die A-Hütte den Naturfreunden, aber ansonsten gibt es viele Gemeinsamkeiten.
Beide werden von Frauen geführt, beide präsentieren sich im modernen Look, beide kommen mit gerade einmal etwas mehr als drei Dutzend Schlafplätzen übersichtlich und gemütlich daher.

Außerdem verbinden zwei Wege Süd und Nord. Der eine führt über besagtes Sandesjöchl und ist einfach. Der andere umrundet den Pflerscher Tribulaun auf der Südseite auf dem sehr schmalen und luftigen Pflerscher Höhenweg, ehe er hinauf zur Schneetalscharte zieht, die hier die »A/I-Grenze« markiert.
Der Vorteil: Von hier ist es nur ein Katzensprung auf den Gschnitzer Tribulaun, der deutlich leichter zu ersteigen ist als sein großer Bruder, und der sich quasi im Vorbeigehen auf einem drahtseilversicherten Steig mitnehmen lässt. Der Nachteil: Der Abstieg ins westliche Schneekar ist ein Eiertanz auf losem Geröll.
Enge Familienbande
Umso mehr freut man sich über den Zieleinlauf an der Gschnitzer Tribulaunhütte, wo Verena Salcher bereits seit 14 Jahren die Chefin ist. Hüben wie drüben gilt jedoch: We are family! Bei Verena helfen ihre Eltern Josef und Maria Pranger, ihr Bruder Gerhard, Ehemann Wolfgang und Tochter.
Maria tatkräftig mit. Drei Generationen sorgen dafür, dass der Laden läuft. Auch Verena kennt das Problem mit den Doppelgängern. Und erklärt deshalb am Telefon sicherheitshalber, dass der Anrufer gerade auf der NORD-Tiroler Hütte reserviert habe. Dann ist sie auch schon wieder in der Küche und kümmert sich um die Hirtenmakkaroni, die es auch bei Daniela gibt, wo sie Maccheroni alla pastora heißen.
Nach dem Abendessen sollte man sich mit Verenas Papa zusammensetzen, denn Josef ist wie Daniela Eisendle jenseits des Sandesjöchls seit fünf Jahrzehnten jeden Sommer hier oben zu Hause. Seine Anekdoten könnten Bände füllen. Wie die Hütte zweimal von Lawinen weggefegt und einmal sogar ausgeraubt wurde.
Wie er als Bub jeden Tag mit Haflingern Material auf die Hütte transportierte und vieles mehr. Die Wirtsleute auf beiden Seiten des Sandes jöchls hätten sich also einiges zu erzählen. Nur haben sie eben nie Zeit während der stressigen Saison.
Vielleicht müssten CAI und Naturfreunde mal ein Gipfeltreffen auf dem Joch arrangieren: damit die Hütten der Frauen – und die Frauen der Hütten – noch näher zusammenrücken.