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Die letzten Lastenträger Europas

Weit hinten in der Slowakei hat sich in der Tatra eine Tradition gehalten, die anderswo in Europas Bergen längst dem technischen Fortschritt zum Opfer gefallen ist. Träger beliefern die Hütten – und zwar mit allem, was sich auf eine Kraxe packen lässt. Einmal im Jahr messen sich die Sherpas bei einer Rallye.
Aktualisiert am
03.12.2025

Träger bei der 41. Sherpa Rallye zur M.R. Štefánika Hütte (1740 m) im Oktober 2025

Foto von  Peter Neusser

Es herrscht Volksfeststimmung rund um die Chata Zazvor. Dabei steht den 110 Teilnehmerinnen und Teilnehmern der beschwerliche Weg erst noch bevor: 3,7 Kilometer und 600 Höhenmeter bis zur Hütte M.R.Štefánik auf 1740 Metern, und das mit schwerem Gepäck. Die Männer tragen 70 Kilogramm, die Frauen 20.

Die Kunst des Tragens, so lernt der Laie bald, beginnt schon beim Befestigen der Last. Im Falle der männlichen Träger ist dies je ein 50-Liter-Bierfass, das auf die meist hölzernen Tragegestelle geschnürt wird. Wer die Packregeln von Rucksäcken kennt, muss komplett umdenken. Denn die Kraxn haben nur breite Schulterbänder – bewährt haben sich ausrangierte Feuerwehrschläuche – und keinen Beckengurt. Ausnahmslos schnüren die Träger das Bierfass weit nach oben auf die Kraxe, so dass der Fassboden in etwa auf Schulterhöhe liegt und das schwere Stück den Kopf der Sherpas deutlich überragt.

„Packst Du es zu tief, dann macht Dir das Gewicht den unteren Rücken kaputt“, sagt Martin Belis, ein Teilnehmer mit langen Rastalocken. „Liegt der Schwerpunkt hoch, kommt es dem natürlichen Schritt entgegen.“ Allerdings sei es Übungssache, mit dem Gewicht die Balance zu halten. Ein Selbstversuch im ebenen Gelände zeigt, wie recht Martin hat. Jeder Schritt will mit Bedacht gesetzt sein, man kommt schnell ins Schwanken, und ein Sturz kann gefährlich sein. Leichter Nieselregen hat eingesetzt, die Temperatur liegt nur wenig über Null, der Boden ist von den vielen Bergschuhen längst schlammig geworden.

Ein Rennen mit praktischem Nutzen

Die Teilnehmerinnen packen Tomaten-Sugo in ihre Rucksäcke ein, schließlich soll das Rennen auch einen praktischen Nutzen für die Hüttenwirte haben. Denn wie die Bierfässer verbleiben auch die Soßengläser oben auf der M.R.Štefánik. Vor dem Start werden die Rucksäcke und Tragegestelle samt der aufgepackten Last gewogen und meist noch mit ein paar Flaschen Kofola, einem Coca-Cola-ähnlichem Getränk, bis zur 20- beziehungsweise 70-Kilo-Marke aufgepackt. Einer vom Organisationsteam trägt die Daten akribisch in eine Liste ein.

Die 40 Frauen starten zuerst, sie sind mit den 20 Kilogramm auf der steilen Strecke natürlich im Vorteil. Zur Freude der Zuschauer führen sie kurz vor dem Startkommando noch ein Cancan-Tänzchen auf. Lasttragen als Lustgewinn?

Bei den Männern, inzwischen graupelt es, wird auf der Strecke schnell klar, dass viel Leidensfähigkeit dazu gehört. Es ist ein Schnaufen, Hecheln und Stöhnen, archaische Laute, die zur Szenerie passen. Einsetzender Schneefall hat die Landschaft im Nu in ein Winterkleid gehüllt, die Sherpas müssen umso mehr aufpassen nicht zu stürzen.

Der Schnellste schafft die Strecke in kaum zu fassenden 70 Minuten – eine Zeit, die ohne Gepäck schon ansehnlich wäre. Der letzte kommt mehr als anderthalb Stunden später oben an. Doch die Zeiten sind letztlich egal, es ist das Gemeinschaftserlebnis, das alle Teilnehmer trotz der Strapazen noch oben trägt. Denn aufgeben kommt für keinen in Frage.

Die Sherpas der Tatra – ein Kulturgut

Die Sherpa Rallye findet zum 41. Mal statt, und das sagt viel über das Selbstverständnis der Träger aus. In der Tatra, dem flächenmäßig kleinsten Hochgebirge der Welt, ist das Tragen von Lasten Kulturgut. Dass dies bewahrt und auch in Zukunft praktiziert wird, dafür steht Števo Bačkor ein. Der 49-Jährige hat in dem früherer Badeort Starý Smokovec in der Hohen Tatra gemeinsam mit seiner Frau ein Sherpa-Café im sogenannten Schweizer Haus aus der Mitte des 19. Jahrhunderts etabliert. In einem Raum hat Števo zusammen mit anderen Trägern ein Museum eingerichtet, das nicht nur alle Utensilien zeigt, die ein Träger braucht, sondern auch Sequenzen aus Dokumentarfilmen, die über die Tatra Sherpas in den letzten zwei Jahrzehnten gedreht wurden. Denn in einer gewissen Weise sind die Träger zu modernen Helden geworden.

Die Motive für die beschwerliche Arbeit mögen verschieden sein: sportlicher Ehrgeiz, Grenzen ausloten, Freiheitsgefühl oder schlicht Kameradschaft – die Bezahlung (in der Regel ein Euro pro transportiertem Kilo) spielt für die meisten eine untergeordnete Rolle. Doch eines ist allen gemein: Kraft ihrer Schultern und Beine sichern sie den Fortbestand der Hütten in der Tatra und führen eine Tradition weiter, auf die die ganze Slowakei stolz ist.

Text: Michael Ruhland

 

 

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