Die Friaulischen Dolomiten | BERGSTEIGER Magazin
Auf Tour in den Dolomiten

Die Friaulischen Dolomiten

In der deutschsprachigen Führerliteratur sind die Friaulischen Dolomiten ein weißer Fleck. Gerade einmal ein Bildband ist über dieses Gebiet erschienen. Dabei lohnt es sich durchaus, den »Nahen Osten« der Dolomiten zu erkunden.
Von Franziska Baumann (Text und Bilder)

 
Dolomiten wie aus dem Bilderbuch über dem Val Montanaia © Franziska Baumann
Dolomiten wie aus dem Bilderbuch über dem Val Montanaia
Il Campanile è bellissimo!« Teresa steht in ihrem kleinen »negozio curiosità e ricordi«, ihrem Laden für Kuriositäten und Souvenirs in Casso, und schwärmt vom berühmtesten Felsturm im Naturpark Friaulische Dolomiten, dem Campanile di Val Montanaia. Eine Wanderung dorthin sollten wir uns auf keinen Fall entgehen lassen. Das kleine Bergdorf Casso liegt am südwestlichen Rand des Naturparks über dem ehemaligen Vajont-Stausee. Gegenüber am Monte Toc zeugt eine glatte Felsflanke von der Katastrophe vor 45 Jahren. Schmale, dreistöckige Häuser klammern sich wie mittelalterliche Turmbauten an die steilen Berghänge. Land war knapp, deshalb baute man in die Höhe. Teresa wartet oft umsonst auf Besucher, die sich für ihre Bücher und das Kunsthandwerk der Region interessieren. Nur wenige Touristen verirren sich in die engen, gepflasterten Gassen, die eine bedrückende Atmosphäre ausstrahlen. Viele der alten Häuser stehen leer, schutzlos dem Zahn der Zeit ausgesetzt. Gerade ein Dutzend Menschen leben noch in Casso. Die Jungen sind gegangen, dorthin, wo es Arbeit gibt. Geblieben sind allein die Alten. Teresa wollte nicht gehen. Sie eröffnete ihren Laden und hofft, dass die Leute nach Casso zurückkehren – vielleicht, wenn die holprigen Gassen einmal repariert und die vom Verfall bedrohten Häuser renoviert sind.

Der Campanile - Star des Val Cimoliana

Fantastische Naturbilder flimmern über unsere Windschutzscheibe, als wir auf einer holprigen Straße durch das 14 Kilometer lange Val Cimoliana mitten in das Herz des Naturparks Friaulische Dolomiten fahren. Die glasklar sprudelnde Torrente Cimoliana, der felsige Schlund einer Schlucht, Wände, Türme und Grate des Massivs rund um die Cima dei Preti, dem mit 2706 Metern höchsten Gipfel im Naturpark – Dolomitenszenerie wie aus dem Bilderbuch. Unterhalb des Rifugio Pordenone, am Pian Meluzzo, ist die Fahrt zu Ende. Nun läuft der Film in Zeitlupe. Wir sind zu Fuß unterwegs.

Nicht einmal 100 Kilometer vom Touristenmagneten Venedig entfernt, zwischen dem Karnischen Hauptkamm im Norden und der friaulischen Tiefebene im Süden ragen schroffe Felsgipfel empor, schneiden tiefe, fast schluchtartige Täler des Piave« verdient. An Schroffheit und spektakulären Felsformen kann es mit den »echten« Dolomiten durchaus mithalten. 37000 Hektar wurden als Naturpark unter Schutz gestellt. Die meisten hohen Gipfel wurden zwischen 1874 und 1902 erstmals erstiegen. Zu dieser Zeit erschienen begeisterte Berichte in der Zeitschrift des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins. Dann kehrte Ruhe ein – bis heute, ist man nicht gerade an einem Wochenende unterwegs. 

Als ein mit Schotter gefüllter Schlund gähnt das steile Val Montanaia über dem Parkplatz am Pian Meluzzo. Darüber zahnt ein felsiges Gebiss in den Himmel. Es ist Sonntag. Wie bunte Tausendfüßler pilgern italienische Wandergruppen zum Campanile di Montanaia hinauf. Hochrote Gesichter, schweißnasse Hemden, ein gieriger Schluck aus der Trinkflasche – der Anstieg über die Geröllwüste ist mühsam. Endlich zeigt sich der Star des Tals. Ein steinerner, allein stehender Obelisk im Zentrum einer felsigen Arena, 260 Meter hoch. Als »unlogischsten Berg« soll ihn der englische Landschaftsmaler und Alpinist E. T. Compton bezeichnet haben. Bereits vor mehr als einhundert Jahren nahmen Alpinisten ihn ins Visier. 1902 gelang den beiden Österreichern Viktor Wolf von Glanvell und Günther von Saar die Erstbesteigung. 1904 kehrten sie mit ihren Ehefrauen zurück, die die erste Damenbegehung durchführten. Der Normalweg verläuft auch heute noch auf dieser Route durch die Südwand. Der Nordüberhang am Campanile galt längere Zeit als eines der größten Probleme der Dolomiten. 1930 wurde es von Attilio Tissi gelöst. Nach der heutigen Schwierigkeitsbewertung wäre er damals bereits im siebten Grad geklettert. 

Teresa aus Casso hatte Recht. Die sanft geneigten Wiesen oberhalb des Campanile sind ein ganz besonderer Logenplatz. Das Rund wird eingerahmt von zerklüfteten und zerfurchten Felswänden und -türmen, als hätte irgendwann einmal ein Zyklop hier seine Burg gehabt, von der nur noch eine von Wind und Wetter zerfressene Ruine übrig ist. Schuttströme züngeln in die Wiesen, aus denen die Biwakschachtel Perugini als roter Farbklecks leuchtet. 

Knie wie Pudding

Ein paar Höhenmeter liegen noch vor uns, dann stehen wir auf der Forcella Montanaia und blicken hinüber zu bekannteren Dolomitengipfeln: Antelao, Pelmo und Civetta. Forcella – wer als Wanderer in den Friaulischen Dolomiten unterwegs ist, dem wird diese Vokabel bald so vertraut sein wie ­»spezzatino« (Gulasch) oder »vino rosso«. Forcelle sind dort so zahlreich wie das Geröll in den schluchtartigen Tälern, durch die man zu ihnen aufsteigt. Für Wanderer markieren diese Übergänge häufig den höchsten Punkt der Tour, denn die meisten Gipfel sind den Kletterern vorbehalten.

Als wir mit rauchenden Fußsohlen beim Rifugio Padova ankommen, schwappt uns feucht-fröhliche Stimmung entgegen. Zum Glück scheint der Koch nicht all zu tief ins Glas geschaut zu haben. Seine Spaghetti Bolognese und Spezzatino mit Polenta sind für uns ein richtiges Gourmetmenü. Aus der Pra di Toro, den Wiesen rund um die gemütliche Schutzhütte, wachsen im Halbrund die Zacken der Spalti di Toro. Ein Deutscher war in dieser Bergregion Pionier. Der Ingenieur Wolfgang Herberg arbeitete in den fünfziger Jahren an Staudammprojekten mit und mietete sich im Rifugio Padova ein. Von dort aus erkundete und vermaß er die Friaulischen Dolomiten. 80 Routen durchstieg er zum ersten Mal. Ein Gipfel über der Hütte trägt seinen Namen: Cima Herberg. 

Als wir am nächsten Tag auf der Forcella Monfalcon di Forni stehen, kleben dicke Wolkenbausche wie Zuckerwatte an den Gipfeln. »Il Torrione«, der ein bisschen an den Zuckerhut erinnert, ragt als Fels in der Brandung aus dem wogenden Nebelmeer. Wir haben uns nicht für den direkten Übergang zur Rifugio Giaf über die Forcella Scodavacca entschieden, sondern für einen Umweg über das Biwak Granzotto, das auf einem grasigen Vorsprung über dem Val Monfalcon di Forni thront. Den ganzen Tag über ist uns keine Menschenseele begegnet, so dass wir nun fast erschrecken, als wir auf ein Paar aus Kroatien stoßen. Sie haben sich in der roten Blechschachtel häuslich eingerichtet. Woher? Wohin? Tipps über landschaftliche Höhepunkte werden ausgetauscht. Als wir schließlich auf der Forcella del Cason am Fuß des Torrione stehen, blicken wir in eine dampfende Waschküche. Schemenhaft erscheinen die Umrisse von Felsblöcken und Felswänden und zerfließen wieder im undurchsichtigen Weiß. Wir tasten uns durch eine steile Schuttrinne bergab. Geröll poltert. Unsere Bergstiefel treten in ein loses Kugellager. Am Rifugio Giaf haben meine Knie die Konsistenz von Götterspeise.

Anstieg durch die Forcella dell'Inferno

Canpurós – der perfekte Platz für eine ausgiebige Siesta. Das idyllische Hochtal wird von felsstrotzenden Wächtern umzingelt. Auf den Wiesen hüpfen die Köpfe der Trollblumen im Wind wie gelbe Golfbälle. Das Glucksen eines Baches lässt die Augenlider schwer werden. Wenig unterhalb, in der Biwakhütte Valmenon, steht ein kleiner Raum mit zwei Stockbetten für gestrandete Wanderer offen. Dort haben wir für die Nacht ein Dach über dem Kopf gefunden, denn das Rifugio Flaiban-Pacherini wird neu gebaut und erst im nächsten Sommer wieder eröffnet. Am Morgen schälen wir uns aus einer dicken Schicht an Kleidungsstücken. In unserer Notunterkunft gab es keine Decken. Forcella dell’Inferno – der Name der nächsten Scharte verspricht, dass die klamme Kälte bald aus unseren Knochen weichen würde. 

Der Anstieg durch eine stickig-heiße Geröllhölle lässt tatsächlich ans Fegefeuer denken. Das grelle Sonnenlicht auf dem weißen Schotter blendet die Augen. Die Luft ist gewitterschwanger. Keine guten Vorzeichen für eine Besteigung des Monte Pramaggiore, des höchsten Gipfels in den Friaulischen Dolomiten, der ohne Kletterei zu erreichen ist. Wir kehren dem breiten Felskoloss für heute den Rücken zu. Beim Abstieg durch das Val Postegae öffnet der Himmel seine Schleusen. Hagelkörner sausen wie eisige Geschosse auf uns hernieder. Rund herum kracht es, als würden die Felsmauern über uns jeden Moment zum Einstürzen gebracht. Später trocknen wir uns und unsere Habseligkeiten im Rifugio Pordenone. Der Hüttenwirt schenkt uns mit breitem Grinsen einen selbst gebrannten Latschenschnaps ein – zum Aufwärmen. Wir denken an Teresa in Casso. Le Dolomiti Friulane – bellissime davvero.
Friauler Dolomiten
 
Mehr zum Thema