Der 15. August 2022 war ein schöner Tag für Danyil Boldyrev. Einer, der ihn aus dem fürchterlichen Kopf-Kino der vergangenen Monate herausriss. Zumindest für kurze Zeit. 5,58 Sekunden hatte der 30-Jährige für die 15 Meter hohe Kletterwand auf dem Münchner Königsplatz gebraucht, danach durfte er sich in seinem sechsten EM-Finale zum zweiten Mal Europameister im Speedklettern nennen. Den Weltmeistertitel hatte sich der Dominator der Szene – Spitzname: Usain Bolt des Klettersports – schon zweimal gesichert, dazu noch den Weltrekord. In Zeiten, als er den Kopf noch frei hatte für seinen Sport.
In München war das schon nicht mehr so. Insofern war sein irrer Freudentanz nur zu verständlich. Kaum war der wild jubelnde Sieger unten am Boden, kletterte er noch mal hoch und ließ sich am Top-Griff von den Fans feiern. Wenig später trug er ein T-Shirt mit der Aufschrift »Proud to be Ukrainian«, und so nahm es nicht Wunder, dass seine Rede in Monat sechs nach der russischen Invasion sehr emotional geriet: »Der Tag heute ist so wichtig. Wir sind Ukrainer, wir sind stolz. Diese Medaille ist für unser Land, unsere Soldaten, unsere Kinder. Vielen Dank an euch alle!«
Ein Botschafter seines Landes
Gut zwei Jahre später gibt es den kraftstrotzenden Speedkletterer Boldyrev nicht mehr. Eine Meniskus- sowie eine Venen-Operation haben im Oktober 2023 seine Karriere gestoppt. »Mir fehlt einfach die Erholung, gerade auch für den Kopf«, sagt der 1,90-Meter-Hüne mit dem gar nicht mal so kräftigen Händedruck beim Treffen im Münchner Stadtteil Haidhausen. In einer Stunde wird er im Rahmen der Reel-Rock-Filmtour auf der Bühne des Rio-Kinos stehen und erzählen, wie die 38-Minuten-Doku »Climbing never die« entstanden ist. Die Kurzfassung lautet so: Als Boldyrev nach dem EM-Sieg vom britischen Kommentator Matt Groom interviewt wird, lädt er ihn kurzerhand ein, mit ihm nach Hause zu kommen, in die Ukraine. In den Krieg. Und Groom? Sagt im Film: »Ich weiß nicht, was ich tue, aber ich fahre jetzt da hin.«
Herausgekommen ist das Bild einer von Krieg gezeichneten Gemeinschaft, die durch Klettern und Patriotismus zusammengehalten wird. Als Spitzenathlet und Kapitän des ukrainischen Teams muss Boldyrev nicht im Krieg kämpfen, sondern als Botschafter seines Landes wirken – ein Dilemma, wie er sagt: »Ich bin ja groß und kräftig, aber Freunde, die an der Front sind, sagten zu mir: ›Du weißt nicht, wie man kämpft. Gewinn‘ du Medaillen für die Ukraine und trage unsere Geschichte nach Europa!‹ Das ist ein anderer Teil der Front in unserem Kampf.« Und so reist der in Donezk geborene Kletter-Star im Herbst 2022 erstmals seit Kriegsausbruch wieder in die Heimat – oder in das, was davon übrig ist.

Mit dabei: Freundin Alina und Matt Groom, der Kommentator. Im Auto geht es von Deutschland, wo Boldyrev 2019 die Top-Athleten des DAV in der Vorbereitung auf Olympia in Tokio betreut hatte, durch Polen bis zum ersten Stopp in Lwiw. Boldyrev sagt: »Keiner fährt in die Richtung, in die wir fahren.« Grooms erster Eindruck hinter der Grenze: »Alles stockfinster.« In Lwiw dann: kein Wasser, kein Strom – und da ist die Front noch weit weg. Boldyrev sagt: »Auch im Krieg glauben wir an unseren Traum und tun alles dafür, dass das Klettern wegen dieses verdammten Kriegs mit Putin nicht stirbt.« Nächste Station: Kiew. Dort bereiten sich die besten Sportkletterer des Landes auf die nationale Meisterschaft vor – während ständig Bomben fallen.
Boldyrev, der Seriensieger, hängt den Gewinnern die Medaillen um. In Dnipro, 100 Kilometer vor der Front, trifft er auf das nationale Jugend-Team, rund 150 Kids, die bei eisiger Kälte im Bunker trainieren. In Charkiw, der letzten Station, wird nicht mehr geklettert. Ein Panzerangriff hat auch die Kletterhalle zerstört. Boldyrev erfährt vom Tod einiger Kletter-Freunde, sieht Bilder einer Beerdigung, bei der Särge per Kletterseil verbunden sind. Hier trennen sich die Wege von Boldyrev und Groom, zurück in Sicherheit schaffen es aber beide.
Wunden in der Seele
Seitdem hat Boldyrevs Karriere einen Knacks bekommen, mehr als ein paar Coaching-Jobs sind derzeit nicht drin. Aber selbst wenn er unverletzt geblieben wäre: Die Wunden in der Seele heilen ja nicht, solange in der Heimat gekämpft wird. Lange klagte er über Bluthochdruck und Schlafbeschwerden – wegen psychischem Stress und Sorge um die Familie. Seine Mutter ist nach Georgien in relative Sicherheit geflohen, aber die Familie seiner Frau stammt aus Bachmut, wo kein Stein mehr auf dem anderen steht. Er wohnt derzeit in Hilden bei Düsseldorf und zwar von Tag zu Tag: »Ich kann nicht wie alle anderen Menschen Pläne machen.«
Die verpasste Olympia-Teilnahme? »Mit 25 wäre ich enttäuscht gewesen. Heute habe ich verstanden, dass es so etwas wie Schicksal gibt, dass wir unser Leben nicht kontrollieren können. Klar haben wir Ziele und Träume, aber manchmal haben wir nur Schicksal. Deshalb will ich jeden Tag meines Lebens genießen, meine Frau lieben, meine Mutter umarmen. Ich will nicht unglücklich sein. Wer unglücklich ist, ist dem Tod näher. Wenn du das Leben anlachst, lacht es zurück.«
Text: Thomas Becker
Beim Treffen in einem Hotel in Haidhausen machte Danyil Boldyrev auf Thomas Becker einen recht geknickten Eindruck – kein Wunder nach dem, was er alles durchgemacht hat.
Dieser Artikel erschien im Bergsteiger 12/2024. Bestellen Sie jetzt die Einzelausgabe oder testen Sie unser Magazin mit 50% Preisvorteil.