Reinhold Messners Dolomiten

Die großen Wände der Dolomiten sind seit je her eine Herausforderung für Alpinisten. An der Rosengartenspitze-Ostwand hatten sich viele versucht – zwei Liebende fanden schließlich die Ideallinie. Von Ivo Rabanser

 
Im Herzen der Rosengartengruppe ragt die Rosengartenspitze – mit 2981 Metern ihr zweithöchster Berg – empor. Schon früh war der Rosengarten mit seinen Gipfeln und Türmen das Ziel von Bergsteigern. So schwärmten die Engländer George C. Churchill und Josiah Gilbert in ihrem 1864 erschienenen Werk »The Dolomite Mountains« begeistert von dem Bergmassiv. Die einzigartig gestaltete Gebirgskette entlockte den beiden Autoren klangvolle Sätze: »Von den Fenstern der Kaiserkrone sieht man gegen Osten im Abendlicht die Türme der Dolomiten, alles überragend und noch beleuchtet, selbst wenn schon alles andere dunkel ist – ein herrlicher und geheimnisvoller Anblick. Diese Dolomiten führen den Namen Rosengarten! Ein Name, den man mit deren fast geisterhaftem Aussehen niemals vereinen würde …«

Der Gipfel beginnt zu leuchten
Beschreibungen wie diese wirkten auf andere Bergsteiger anziehend und aufstachelnd zugleich. Und so stiegen im Jahr 1872 die Briten Comyn Tucker und T. H. Carson mit dem Führer Antonio Bernard durch das Durontal zum Antermoia-See auf und erkletterten den 3002 Meter hohen Kesselkogel, die höchste Erhebung des Rosengartens. Nur zwei Jahre später standen dieselben englischen Abenteurer – diesmal mit dem Schweizer François Devouassoud als Führer – auch auf dem Scheitel der Rosengartenspitze, deren vertikaler Fels in der Morgendämmerung in den prächtigsten Farben und plastischsten Formen zu leuchten beginnt. Unbezwungen aber blieb die Ostwand des Berges: eine steil abfallende Wandflucht, deren Anblick die Szenerie während des gesamten Aufstiegs zur Vajolethütte dominiert. Zwei kesselartige Schultern senken das Gemäuer links und rechts des Hauptgipfels etwas ab und lassen den zentralen, kompakten Wandpfeiler umso deutlicher hervortreten.
Es waren wieder britische Alpinisten, die diese alpinistische Herausforderung annahmen. Denn ihre Routen hielten sich nicht mehr, wie bis damals üblich, an die einfachsten Flanken der Berge. Sondern sie zogen allmählich die steileren und schwierigeren Wände vor. Der Oxford-Dozent John Phillimore und sein zehn Jahre jüngerer Seilpartner, der Londoner Pastor Arthur Raynor, hatten sich die Rosengartenspitze-Ostwand vorgenommen. Die beiden beauftragten 1896 den Bergführer Antonio Dimai damit, für sie einen Weg durch das gewaltige Gemäuer zu finden.
 
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