Ihr Lieblingsmagazin zum Vorteilspreis direkt vom Verlag:  Jetzt abonnieren

Ruhe am Brenner

Dank Lockdown auf der Autobahn gibt sich der Brenner fast wie zu Goethes Zeiten. Wer mehr will, sollte zu Fuß zum Pass hinaufsteigen. Aber Vorsicht: Die Stille ist ansteckend!
Veröffentlicht am
Juni 27, 2025

Goethe ist frustriert. Die Amtsgeschäfte, die ganze Politik. Die Hofdame von Stein. Keine Zeit zum Dichten. Was tun? Nur weg aus Weimar und Karlsbad! Und so flieht er über München und Mittenwald nach Innsbruck, immer tiefer hinein ins Gebirge. Am 8. September 1786, genau einen Monat nach der Erstbesteigung des Mont Blanc, kommt er »im rollenden Wagen« auf dem Brenner an.

Schon am nächsten Tag fährt er weiter, hinab nach Südtirol und Italien, ins gelobte Land von Dante und Vergil. Vorher notierte er in sein Tagebuch: »Von Innsbruck herauf wird es immer schöner, da hilft kein Beschreiben« und man denkt sich heute: Hmm.

Niemand, der die weiterführende Schule verlassen hat, liest ja noch Goethe. Aber alle zieht es ständig in den Süden. Nicht wegen Dante und Vergil, sondern wegen Dolomiten und Vernatsch.

Am Sonntag, den 16. Februar 2025, herrschte eine ganz ungewohnte Ruhe über Südtirol, das heißt über dem Etschtal. Die Autobahn war für ein paar Stunden gesperrt worden, weil bei Brixen eine Fliegerbombe aus dem Zweiten Weltkrieg entschärft werden musste.

Und weil man auf der österreichischen Seite an der neuen Luegbrücke baut und die Autos und Lkw in den nächsten Jahren nur einspurig vorankommen, empfahl man gleich, den Brenner »großräumig« zu umfahren. Auch die Bahn stand still. Lockdown im Etschtal, ein paar kostbare Stunden lang. Wer nicht dagegen immunisiert war, konnte sich glatt das Virus einfangen. Ruhe ist ansteckend.

Aus eigener Kraft

Von Innsbruck zum Brenner sind es etwas mehr als 40 Kilometer, Fahrzeit auf der Autobahn eine gute halbe Stunde – wenn es gut geht. Man kann aber auch zu Fuß gehen, und ich finde, dass jeder Bergmensch, vor allem jeder Südtirol-Fan, einmal aus eigener Kraft zum Brenner hinaufsteigen sollte, immer in Hör- und Sichtweite des rollenden oder sich stauenden Verkehrs auf der Autobahn.

Er und sie wird da viel mehr Stoff zum Nachdenken finden als auf jedem »Philosophenweg«, den irgendein Marketingchef noch schnell als Schlechtwetterangebot zwischen die Downhill-Trails gelegt und mit Tafeln versehen hat, auf denen bärtige Männer schlaue Sprüche von sich geben.

Innsbruck liegt auf 574 Metern, der Brenner auf 1370 Metern. Das Tourenportal Alpenvereinaktiv errechnet 42,1 Kilometer Wegstrecke, die klassische Marathondistanz.

Trainierte Wanderer schaffen das an einem Tag, auch wenn sie dabei den verschiedenen Asphaltbändern kleinräumig ausweichen müssen, wodurch insgesamt 1384 Meter im Aufstieg und 614 Meter im Abstieg zusammenkommen.

Es sind einfach mehr Kutschen als zu Goethes Zeiten unterwegs, und sie werden von mehr Pferden gezogen oder geschoben, auch wenn man die Pferde jetzt nicht mehr sieht. Menschen und moderne Benzin- oder Stromkutschen können sich nicht mehr dieselbe Fahrbahn teilen.

Vielleicht findet man weitere Fliegerbomben in Südtirol, dann wird man die Autobahn wieder zusperren. Ich glaube, dass viele das gar nicht schlimm fänden. Blindgänger aus der jüngeren Vergangenheit lenken so schön ab vom Monsterknaller der Gegenwart, der offen daliegt. Die Tourismusbombe entschärft niemand. Viel zu gefährlich.

Axel Klemmer schlägt einen Lehrpfad vom Innsbrucker Hauptbahnhof bis zum Outlet Center auf dem Brenner vor, Thema: »Wohlstand und wovon Goethe keine Ahnung hatte«.
Picture of Bergsteiger Redaktion
Die perfekte Ergänzung zur Bergsteiger-Print-Ausgabe mit aktuellen Berg-News, Messe-Neuheiten, Terminen, Bergwetter, Produkttests, zahlreichen von der Bergsteiger-Redaktion empfohlenen Touren und vielem mehr. bergsteiger.de versteht sich als die zentrale große Website für alle Bergsportbegeisterten im deutschsprachigen Raum. Auf der einen Seite ein alpinistisches Archiv – auf der anderen Seite viel Inspiration, die spannende Bergwelt immer wieder neu zu entdecken.
Beliebt

Mehr anzeigen

Mehr zum Thema