Es ist kurz nach Mitternacht, als sich am Sonntag, 13. August 1961, in Gersthofen bei Augsburg eine kleine Autokolonne in Bewegung setzt. Zwei Dutzend Männer, begleitet von einigen Frauen und Freundinnen, machen sich auf den Weg ins Gebirge. Die meisten gehören der Kolpingsfamilie Gersthofen an, der örtlichen Gliederung des katholischen Sozialverbandes Kolpingwerk. Sie haben keine normale Bergtour vor, sondern wollen auf der Mädelegabel in den Allgäuer Alpen ein Gipfelkreuz aufstellen.
Kopf des Unternehmens ist Alfred Steiner, der zwanzigjährige Vereinsvorsitzende. Beinahe zeitgleich wird in Berlin die Aktion »Rose« gestartet: Die Sektorengrenzen werden abgeriegelt; es ist der Auftakt zum Bau der Mauer. Die Geschichte mit dem Gipfelkreuz hatte schon im Sommer 1959 begonnen, als Steiner in der Lokalzeitung auf einen Bericht zum sechzigjährigen Bestehen des Heilbronner Weges stößt.
Seitdem er als Postbote sein eigenes Geld verdient, ist er ständig in den Bergen unterwegs. Steiners Vater ermahnt ihn zwar immer wieder, der Sohn solle das Geld doch lieber sparen, aber Steiner lässt sich nicht abhalten. Und so nimmt er auch bald nach der Zeitungslektüre zusammen mit vier Freunden den Heilbronner Weg in Angriff.
Von der Rappenseehütte besteigen sie zunächst das Hohe Licht, wo sie am Gipfelkreuz zu ihrem Erstaunen lesen, dass es 1938 von der Kolpingfamilie Oberstdorf errichtet wurde. Spontan entsteht die Idee: »Das machen wir auch«. Schon ein paar Stunden später ist auch der passende Berg gefunden: Die 2645 Meter hohe Mädelegabel hat noch kein Gipfelkreuz.
Schneetreiben am Gipfel der Mädelegabel
Der heute 74-jährige Steiner erinnert sich schmunzelnd: »Uns war überhaupt nicht klar, was wir uns damit vorgenommen hatten«. Vielleicht wäre die Sache im Sande verlaufen, hätte er sich im nächsten Jahr nach einigem Bitten und Drängen nicht zum Vereinsvorsitzenden wählen lassen. In dieser Position konnte er das Projekt vorantreiben. Die Arbeiten, angefangen vom Fällen einer Eiche, die ein Bauer gestiftet hatte, bis zur Aufstellung des Kreuzes, zogen sich über ein Jahr hin. Steiner macht nicht viel Aufhebens davon. Dabei waren er und fünf Kollegen schon einen ganz Tag lang bei Kälte und Schneetreiben damit beschäftigt, einen Schacht und vier Löcher in die Gipfelfelsen zu meißeln, um die Voraussetzungen für eine feste Verankerung des Kreuzes zu schaffen.

Das Gipfelkreuz der Mädelegabel
