Wandern im Meraner Land

Auf historischen Wanderwegen rund um Meran

Zwei Wege führen von Norden ins Meraner Land, der eine von Sterzing über den Jaufenpass, der andere vom Ötztal übers Timmelsjoch. Was in Schnee und Eis beginnt, endet in blühenden Apfelplantagen bei einem Glas Rotwein und mit Blick auf eine herrliche Bergkulisse.
 
Mit der Apfelblüte hält der Frühling Einzug in die Region um Schenna. © Franziska Baumann, Südtirol Marketing / Frieder Blickle / Helmuth Rier
Mit der Apfelblüte hält der Frühling Einzug in die Region um Schenna.
Kehre um Kehre windet sich die Jaufenstraße von Sterzing zur Passhöhe hinauf. Schneewälle fassen das Asphaltband ein wie vereiste Banden eine Bobbahn. Am höchsten Punkt, auf 2096 Metern, kriechen die Schaulustigen fröstelnd tiefer in ihre Jacken. Doch der Blick nach Süden weckt Frühlingsgefühle. Das Meraner Land liegt ihnen zu Füßen. Hellgrün leuchten die Talböden des Passeiertals herauf: In Schenna und Dorf Tirol muss bereits die Saison der Freiluftcafés begonnen haben. Die Jaufenstraße ist das Tor in den Süden. Als sie 1912 nach siebenjähriger Bauzeit eröffnet wurde, war sie bald eine Touristenattraktion: »Einstimmig war das Urteil aller (…), dass man kaum irgendwo anders auf so kurze Distanz von 38 km in gemäßigter Autofahrt von kaum 2¼ Stunden eine solche Fülle von landschaftlichen Reizen zu schauen bekommt«, berichtet die Meraner Zeitung.

Jaufenpass und Timmelsjoch sind die Eingangspforten in eine Region, in der karges Hochgebirge unmittelbar an einen von mildem Klima verwöhnten Garten Eden anschließt. Das Passeiertal wird von den steilen Hängen der Texelgruppe und der Sarntaler Alpen eingerahmt. Über St. Leonhard, dem Hauptort des Tals, sind die Wiesen vom Löwenzahn gelb getupft. Noch weiter südlich verwandeln die Apfelfelder die Hänge im vorderen Passeiertal und rund um Schenna und Dorf Tirol in einen weißen Blütenteppich. In den Gärten blüht es, die Luft ist mild und schwer von all den Frühlingsdüften. Die beiden beliebten Urlaubsorte flankieren den Eingang ins Passeiertal und rühmen sich in unmittelbarer Nähe der altehrwürdigen Kurstadt Meran einer privilegierten Lage. Rund 300 Sonnentage im Jahr verzeichnet die Statistik.

Jenseits der weißen Kämme über Schenna

Ein lauer Spätnachmittag in Schenna. Der Südtiroler Vernatsch leuchtet hellrot im Glas. Man schmiedet Pläne für Frühjahrstouren. Jetzt im April ist die richtige Zeit, um entlang der Waale Farben und Gerüche mit allen Sinnen aufzusaugen oder an den Südhängen der Texelgruppe durch eine Vegetation zu schlendern, die an das Mittelmeer erinnert. Die Felszinnen über Schenna – Großer Ifinger und Videgger Plattenspitz – leuchten orangerot im Abendlicht. Gegenüber verwandeln sich die Gipfel des Texelgebirges, des alpinen Herzstücks der Region, langsam in einen schwarzen Scherenschnitt. Mit Touren auf ihre Gipfel muss man noch bis zum Sommer warten; doch auch der ist ja nicht mehr weit.

E5 und Tiroler Höhenweg

Schwer bepackt zogen sie aus dem Passeiertal hinauf zum Jaufenpass und zum Timmelsjoch. In ihren Kraxen waren Wein, Branntwein und Essig, aber auch Früchte, Öl, Zucker und Baumwolle verstaut. Es müssen Männer mit außergewöhnlicher Körperkraft gewesen sein. Bis zu 100 Kilogramm transportierten die Kraxenträger über die beiden Pässe, die kürzesten Verbindungswege von Meran nach Innsbruck und ins Oberinntal. Für den Rückweg luden sie Salz, Getreide, Flachs und Leder auf ihre Tragegestelle. Anfang des 19. Jahrhunderts gab es im Passeiertal rund 200 Kraxenträger. Auch Säumer transportierten mit ihren Pferden Waren auf schmalen Bergpfaden. Für die Bauern des Tals war dies eine wichtige zusätzliche Einkommensquelle.

Heute sind es die Fernwanderer, die Pässe und Gebirgszüge überqueren. Zwei Weitwanderwege führen durch das Meraner Land: der Europäische Fernwanderweg E5 und der Tiroler Höhenweg. Wer sich zu Fuß aufmacht, um einige Tage die Gebirge rund um das Passeiertal, um Dorf Tirol und um Schenna zu erkunden, für den werden die Gegensätze der Region besonders spürbar. Im Hinterpasseier wandert man im Angesicht eisgepanzerter Bergriesen, den südlichsten Gipfeln der Ötztaler Alpen, durchquert die stillen Hochtäler der Texelgruppe, taucht in jahrhundertealte Bergbauernkultur an den Hängen über dem Passeiertal ein und spaziert wenig später vorbei an Weinreben, Feigenbäumen und Zypressen. Fast könnte man vergessen, dass bis zum Mittelmeer noch einige Etappen fehlen. Der Passeirer Höhenweg bleibt in der Region. Immer hoch oben und immer auf der Sonnenseite schlängelt er sich vom Jaufenpass Richtung Westen, gleich einem Laufsteg hoch über dem Passeiertal. Den Digestif nach so viel Augenschmaus liefert die Hochalm: mit selbst gemachtem Ziegenfrischkäse oder Ricotta auf Basilikumpesto. Dort blickt man über das schluchtartig eingeschnittene Hinterpasseier und ins hochalpine Herz der Texelgruppe, zur Hohen Wilde und Hohen Weiße über dem Pfelderer Tal, deren Namen schon verraten, dass ihre Besteigung kein Spaziergang ist. Wer auf den Geschmack gekommen ist, könnte einfach oben bleiben und durch ein einsames Hochtal zur Schneeberghütte weiterziehen.

Labyrinth unterm Schneeberg

Der Schneeberg, ein Bergkessel östlich des Timmelsjochs, bildet einen überraschenden Kontrast zur Hochgebirgsnatur rundum. Abraumhalden mit glänzendem Gestein gleichen einer Mondlandschaft. Schächte verschwinden im Innern des Berges, als wären sie Eingänge zur Unterwelt. Die Hänge sind durchlöchert wie wurmstichiges Holz. Seit dem Beginn des Bergbaus am Schneeberg im 13. Jahrhundert haben Knappen ein Labyrinth von mehr als 130 Kilometern Länge geschaffen, um dem Berg seine Schätze, vor allem Bleiglanz und Zinkblende, zu entreißen. »Hier ist alles Museum«, sagt Heinz Widmann, der mit seiner Frau seit 1995 die Schneeberghütte bewirtschaftet. Das Bergwerk, seine Geschichte und das, was heute noch davon zu sehen ist, sind seine große Leidenschaft. Mit viel Pioniergeist forschte er nach den Hinterlassenschaften des Bergbaus. Überall stieß er auf verfallene Gebäude und Bergwerksanlagen; Zeugen einer Zeit, als dort oben, auf über 2300 Metern, gelebt und gearbeitet wurde.

Ab 1871 entstand mit St. Martin am Schneeberg die höchstgelegene Dauersiedlung Europas mit allem, was zum Dorfleben dazu gehört: Schule, Kirche, Krankenhaus, Gasthof und Vereine. In der Schneeberghütte, dem ehemaligen Herrenhaus, waren die Ingenieure und Aufseher mit ihren Familien untergebracht. Der Schneeberg war ein unwirtlicher Wohnort. Acht Monate herrscht in dem Hochtal Winter. »Oft liegt der Schnee mehrere Meter hoch«, erzählt Heinz Widmann. Man arrangierte sich und lebte unter den Schneemassen. Unterirdische Gänge verbanden die wichtigsten Gebäude und sicherten den Zugang zu den Stollen. Vieles aus dieser Zeit ist inzwischen restauriert und steht als Erlebnisbergwerk den Besuchern offen. »Dies ist aber erst der Anfang«, glaubt Heinz Widmann. Archäologen bezeichnen den Schneeberg als das »größte Bodendenkmal Südtirols« und haben mit Ausgrabungen begonnen. Eine Schmiede und eine Metzgerei aus dem 16. Jahrhundert wurden bereits freigelegt. Der Hüttenwirt ist überzeugt, dass noch weitere Überraschungen warten.

Zu Fuß von Österreich nach Italien

Der Europäische Fernwanderweg E5 führt vom Bodensee über Bozen nach Venedig; die Strecke vom Timmelsjoch über St. Leonhard nach Meran ist in drei Tagen zu begehen. Fernwanderer, die den E5 bereits in Süddeutschland starten, können für die Rückkehr die direkte Busverbindung von Schenna oder aus dem Passeiertal nach München nutzen. Weniger bekannt ist der Tiroler Höhenweg von Mayrhofen im Zillertal nach Meran. Die 130 Kilometer lange Strecke teilt sich in elf bis 13 Etappen auf, davon fünf bis sechs Tage im Meraner Land (Schneeberg – Zwickauer Hütte – Stettiner Hütte – Texelgruppe – Spronser Seen – Dorf Tirol). Ein Klassiker unter den Südtiroler Höhenwanderungen ist der Meraner Höhenweg, der die Texelgruppe umrundet. Für die gesamte Strecke von etwa 100 Kilometern werden fünf bis sechs Tage benötigt. Am Eisjöchl (2908 m) bei der Stettiner Hütte erreicht man dessen höchsten Punkt. Zahlreiche Zustiegswege ermöglichen es, den Höhenweg beliebig zu beginnen oder zu unterbrechen.
 
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