Hans Ertls Kampf um die Ortler-Nordwand

Alpines Meisterstück

Hans Ertl war einer, der sich vom Nimbus der Ortler-Nordwand nicht abschrecken ließ – und der als Erster durch die rund 1200 Meter hohe Eiswand kletterte. Ein Individualist durch und durch, ein Hitzkopf, ein Draufgänger, eine Kämpfernatur! In diesem Jahr wäre er hundert Jahre alt geworden. Von Uli Auffermann

 
Im August 1930 blickt ein 22-jähriger Bergsteiger aus München vom Rothböckgrat in den Eistrichter der noch undurchstiegenen Ortler-Nordwand. Einer, der entschlossen ist, etwas zu wagen, einer, der sich erst kurz zuvor mit der Erstbegehung der Königspitze-Nordwand, der Königswand, bewiesen hat, dass er im Konzert der Konkurrenten um die letzten großen alpinen Herausforderungen mitspielen kann.

Hans Ertl und seine Zeit
Um die alpine Dramaturgie zu begreifen, zu der die Erstbegehung der Ortler-Nordwand gehört, müssen wir uns die Hintergründe einer Epoche vergegenwärtigen, die als »Bergvagabundenzeit« beschrieben wird. Ende der 1920er, Anfang der 1930er Jahre kumulierten gesellschaftliche und politische Ereignisse derart, dass auch der Alpinismus in seiner Ausrichtung davon massiv ergriffen wurde. Die elitär-exklusive Gruppe der akademischen Bergsteiger hatte ein deutliches Gegengewicht bekommen durch Kletterer aus »einfachen« Kreisen, die sich zum Beispiel im Club Hochempor und der Sektion Bayerland einfanden. Seit 1929 deprimierte nunmehr die weltweite wirtschaftliche Krise Industrie, Handel und die Menschen.

Bis 1932 verzeichnete Deutschland sechs Millionen Arbeitslose. Wer eine Lehrstellehatte, konnte sich darüber im klaren sein, danach keine Anstellung zu finden. Die Aussicht auf ein Leben in Selbstbestimmung, finanzieller Unabhängigkeit, mit Gefühlen des Selbstwertes
und der Anerkennung, schien für die meisten Arbeiterkinder sehr unwahrscheinlich.

Somit nicht verwunderlich, dass viele angelockt waren von einer Jugendbewegung, die sich im Sport und in der Natur austoben durfte und sollte. Jene schafften ein Klima der Leistung und des Leistungsvergleiches, gaben den Jungen das Gefühl, dass sie sich in der direkten Auseinandersetzung mit der Natur ein Selbstbewusstsein holen könnten, welches sie beim Warten auf Arbeit sicherlich nicht bekämen. Sie verstärkten die Werte der Kameradschaft, des sich für den anderen Einsetzen bis zum Äußersten, stilisierten Mut und Männlichkeit, Opferbereitschaft und Kameradschaft zu erstrebenswerteren Zielen als Geld und Intellekt, und das in ganz besonderem Maße, nachdem die Nationalsozialisten 1933 an die Macht kommen sollten. Bergsteiger, die sich hervortaten, bekamen Aufmerksamkeit und Anerkennung. Viele, die sich von der zunehmenden Armut und der erdrückenden Zukunftsperspektive bedrängt fühlten, schafften sich in den Bergen ihre Enklave, in der sie sich beweisen konnten, in der anscheinend Status und Herkunft weniger zählten als Mut, robuste Physis und Draufgängertum. Kein Wunder, dass sich ein enormer Konkurrenzdruck unter den extremen Kletterern entwickelte, die die Sehnsucht hatten, dem Elend der Städte zu entfliehen. Man wollte als Hüttenwirt oder Bergführer leben oder sich mindestens durch neue schwierigste Touren profilieren.

Auf Abenteuersuche
Hans Ertl beschrieb seinerzeit anschaulich die Atmosphäre in einem Münchener Klettergarten: »Aber an schönen Tagen, besonders in der gipfellosen Übergangszeit, sind sie alle da, die Spezialisten vom ›Marmorwandl‹, ›Sixt- und Herrenriss‹ und von der ›Fingerspitzltraverse‹, und üben, kritisieren, versuchen und entdecken immer wieder eine neue, noch schwerere Möglichkeit, eine noch nicht schweißpolierte Variante ›sechsten Grades‹. (…) Auch ich hatte schnell Anschluss an die Klettergartenmatadore gefunden und war dank meiner Ausmaße und meiner kräftigen Finger bald einer der ›Alleskönner‹, der die ›Große Traverse‹ und die ›Hannemann-Traverse‹ versuchte und sogar den großen Überhang hinauf und hinunter gleich sechsmal hintereinander machen konnte, sogar mit nacktem Oberkörper, und das dazu technisch so sauber, dass es der ehrenwerten Konkurrenz ›die Schusser bis zum letzten Gewindgang aus dem Kopf treibt‹, wie man in München so anschaulich sagt.« In der Tat schienen die ehrgeizigsten und draufgängerischsten unter den hart trainierenden Spitzenkletterern diejenigen zu sein, deren Biografie materielle Armut und mitunter einfachste Familienverhältnisse auswiesen.

Auf Hans Ertl traf das allerdings nicht zu. Er war eher gutbürgerlicher Herkunft, finanziell besser ausgestattet. Seit frühester Kindheit verbrachte er mit den Eltern die Sommerferien in den Bergen, lernte im Winter das Skilaufen und verbrachte schöne Tage auf der von der Familie gepachteten Almhütte am Brauneck. In jenen Tagen entwickelte sich seine Begeisterung für das Gebirge, die nach und nach Abenteuerlust und Freiheitsdrang speiste. Anschluss fand er bei den Pfadfindern, dem Wandervogel, schließlich beim Alpenverein. Als er jedoch dem harten Kern der »Bergvagabunden« begegnete, Leo Rittler, Franz Fischer, Hans Brehm, Franz und Toni Schmid, Anderl Heckmair und andere kennen lernte, wollte er zu diesen erlebnishungrigen, rauschaligen und das Abenteuer suchenden Gesellen gehören. Schnell war Ertl im engsten Kletterzirkel aufgenommen.Gelegentlich konnte er sogar ein Auto auftreiben, und die sonst nur mit dem Fahrrad in die Berge pedalierenden »Vagabunden« genossen es, eine dicke Zigarre rauchend, die Ertl ebenfalls besorgt hatte, einmal so protzend zum Klettern zu fahren. Hans Ertl spürte, dass mit seinen neuen Freunden Aufregendes passieren würde, dass er mit ihnen seiner bürgerlichen Enge entfliehen könnte. Anderl Heckmair erkannte, dass Ertl zwar ein mutiger, starker Kletterer war, dass er aber im ganz extremen Fels nicht wirklich mitmischen konnte. Er riet ihm, sich aufs kombinierte Gelände und auf Eiswände zu konzentrieren, wenner bei dem »Run« auf die letzten großen unerstiegenen Routen der Alpen eine Rolle spielen wollte. So war es eine logische Konsequenz, dass auch Hans Ertl den Fokus auf die riesigen, dunklen Nordwände richtete, die in ihrem Erscheinungsbild, in ihren alpinistischen Anforderungen und in der Symbolkraft in optimaler Weise die Facetten des Zeitgeistes in sich bündelten: abweisend, gefährlich, Einsatz bis zum Letzten fordernd!

Kampf um die Nordwand
Am 22. Juni 1931 ging Ertl zusammen mit seinem Gefährten Franz Schmid die Wand an. Und es sollte tatsächlich ein »Kampf« werden. Es galt, mit dem enormen psychischen Druck fertig zu werden, ob dieses Wagnis gut ausgehen oder ob die Stein- und Eisschlaglawinen sie aus der Wand fegen würden. Siebzehn Stunden kletterten, ackerten, rauften sie sich nach oben – mit Zehnzackern an den Füßen und schweren Ring-Eishaken, die den beiden wohl auch nur phasenweise das Gefühl von Absicherung suggerierten. Sie schafften es, entkamen den großen Gefahren, geschunden, aber voller Selbstvertrauen. Zu Recht, denn Ertl und Schmid hatten eine der schwierigsten Eiswände der Ostalpen durchstiegen. Für Hans Ertl der endgültige Beweis, dass er sich auf sich selbst verlassen und auch in anderen Feldern ganz allein für sein Leben die Richtung vorgeben konnte. Autonomie und Wille zum Erfolg wurden ihm zu zentralen Werten, mit denen er kompromisslos Herausforderungen als Filmer, als Vortragsredner, als Buchautor und schließlich als Farmer in Bolivien annahm. Die Ertl-Route in der Ortler-Nordwand indes bleibt sein alpinhistorisches Meisterstück und ist noch heute ein Zeugnis für ganz großes Bergsteigen.
 
Alpines Meistertück. Von Uli Auffermann
 
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