Der Zauber der Wolkenhäuser | BERGSTEIGER Magazin
Die spannendsten Hütten der Alpen

Der Zauber der Wolkenhäuser

Hütten entstanden als spartanische Stützpunkte, später demonstrierte das Bürgertum seinen Wohlstand. Heute zeigen Ingenieure mit futuristischen Bauten, wozu sie in der Lage sind. Warum? Weil man es kann. Und weil es nirgends sonst so schön ist. Deshalb stellen wir Ihnen in einer großen Serie die spannendsten Hütten in den Alpen vor.

 
Dem Himmel so nah: Der Fotograf Bernd Ritschel hat die Stimmung auf der Nürnberger Hütte in den Stubaier Alpen eingefangen © Bernd Ritschel
Dem Himmel so nah: Der Fotograf Bernd Ritschel hat die Stimmung auf der Nürnberger Hütte in den Stubaier Alpen eingefangen
Brotzeit-Hütte. Ganz einfach Brotzeit-Hütte. Der Name des neuesten Baus in den Hochalpen klingt ins Deutsche übersetzt etwas zu gemütlich. Denn das Haus, das der französische Alpenverein CAF da eigentlich Ende August unterhalb des Mont-Blanc-Vorgipfels Dome du Goûter eröffnen wollte, hat mit herkömmlicher Hüttenromantik nur wenig zu tun: Wie ein überdimensioniertes Ei sieht es aus, das neue Refuge du Goûter. Wie eine futuristische Skulptur, die jemand an die Hangkante geklebt hat, an die Stelle, wo Fels und Eis sich treffen. In den Solaranlagen der Hütte spiegeln sich Gletscherlandschaft und Sonne, genau wie in der dünnen Stahlhülle, die das Holzskelett des Baus umhüllt.

Refuge du Goûter: Ingenieurskunst in der Wildnis

Das Innenleben der Hütte ist nicht weniger beeindruckend: Ein Biomassekraftwerk und auf Schmelzwassertanks basierende Wärmespeicher sollten dafür sorgen, dass sie (bis auf die Küche) energieautark betrieben werden kann. Bakterien- und Membranfilter sicherstellen, dass mit dem Abwasser keine belastenden Stoffe in die Umwelt geraten. Nur: Die Technik hakt noch, die Eröffnung wurde gerade auf die nächste Saison verschoben. Sechs Millionen Euro hat der CAF in den Bau investiert, gerade mal drei Monate im Jahr wird er geöffnet sein. Zwei Jahre pendelten Hubschrauber von Chamonix auf knapp 4000 Meter, lieferten jede Schraube an. Ein Leuchtturmprojekt, das zeigt, wozu neueste Technik in der Lage ist – wenn sie denn einmal funktionieren wird. Und auch, wenn die Hütte optisch nur wenig mit dem zu tun hat, was man sonst so aus den Alpen kennt, ist sie eine Verlängerung der Tradition in die Zukunft. Sie ist der jüngste Beleg für eine Faszination, die seit über 150 Jahren besteht: Dort zu bauen, wo die Natur den Menschen eigentlich nicht vorgesehen hat, sich durch Ingenieurskunst in der Wildnis zu behaupten.

Dabei hat alles ganz klein angefangen. »Die ersten Hütten waren einfache Räume, in denen man trocken und geschützt war«, erklärt Heinrich Kreuzinger, der als Vorsizender der Kommission »Wege und Hütten« des Deutschen Alpenvereins (DAV) seit zehn Jahren über Geschichte und Zukunft der alpinen Bauten nachdenkt. Auch das Refuge du Goûter begann so: 1854 wurde ein Unterstand errichtet, der nach einem Umbau später Platz für ganze vier Mann bot. »Das war eine Zeit mit wenigen, meist gut situierten Alpinisten, die mit Führern unterwegs waren.« Die Zustiege waren deutlich länger, die Bergpioniere brauchten deshalb Stützpunkte, von denen sie zu den Gipfeln aufbrechen konnten.

Heute ziehen sich Straßen weit in die Alpentäler hinein, die meisten Berge sind als Tagestouren machbar. Für Giganten wie den Mont Blanc braucht es zwar noch die Hütte als klassischen Stützpunkt. Doch dank Zahnradbahnen wie der zum Jungfraujoch können andere Viertausender an einem Vormittag abgehakt werden. Viele Hütten sind deshalb heute ein gern besuchter Ort zur Einkehr, aber keine zwingende Notwendigkeit mehr. Trotzdem betreiben die europäischen Alpenvereine ungefähr 1500 von ihnen, andere Träger weitere 12 000.

Messner wollte alle Hütten abreißen

Was eine Hütte ist und was sie ausmacht – die Meinungen sind vielfältig. Für die einen sind sie günstige Naherholungsziele für die Familie, für Nostalgiker Zeitkapseln, in denen die Gemütlichkeit der alten Zeit konserviert wird. Für manchen Wirt, wie den legendären Charly Wehrle, der bis 2009 die Reintalangerhütte im Wettersteingebirge betrieb und seit diesem Sommer die Simmshütte in den Lechtaler Alpen führt, sind sie Freiheitsort und Selbstverwirklichungsbühne. Für gestresste Städter hingegen sozialer Kontaktpunkt, wo Statusgehabe und Konsumterror im Tal bleiben müssen.

Wandernde Feinschmecker schätzen manche Hütte als hochgelegenen gastronomischen Geheimtipp (siehe »Gourmethütten« auf den Seiten 30 und 31), während Puristen in ihnen eher Hassobjekte sehen. Reinhold Messner etwa wollte in den Siebzigern alle Hütten abreißen lassen, weil sie Besuchermassen dorthin locken, wo einstmals Wildnis war.

Wer an einem heißen Feiertag im August in den Bayerischen Voralpen unterwegs ist, ertappt sich vielleicht dabei, Messner heimlich zuzustimmen. Schon auf dem halben Weg zur Rotwand verspürt man erste Zeichen von Heiserkeit, so viele Wanderer muss man mit einem „Servus“ begrüßen. mGleichzeitig gilt es den Mountainbikern auszuweichen, die darauf vertrauen, dass die Bremsen ihrer Räder funktionieren. Und nach zwei Stunden auf der Forststraße kommen von links Turnschuhtouristen, die von der Taubensteinbahn auf den Berg gehievt wurden.

Das Ziel der Prozession: das Rotwandhaus der Sektion Turner-Alpen-Kränzchen, auf 1737 Metern unter dem Gipfel gelegen. Hat man einen Platz auf einer Bierbank hinter der Hütte gefunden, ist man doch froh, dass Messner nicht genügend Einfluss besaß, um seine Pläne zu verwirklichen. Der Blick – von der Zugspitze bis zum Großvenediger! Das kühle Bier, das an Tagen wie diesem an einer improvisierten Theke in der Garage ausgeschenkt wird! Und – »zweimal das Lammkarree, bitte abholen!«, tönt es aus einem Lautsprecher an der Hüttenwand – und erst das Essen!

Als der Tischnachbar mit den Lammkarrees wieder zurückkommt, schaut er verdutzt. Irgendetwas liegt auf seinem Fleisch. Die anfängliche Skepsis macht der Verwunderung Platz, es sind getrocknete Blüten, gelb, lila, blau. »Ein Festessen«, ruft der Mann seiner Frau zu, »ein Festessen. Und das auf einer Hütte.« Lammkarrees im Blütenmantel – solche Ideen hat Peter Weihrer. Der Chef kocht auf dem Rotwandhaus persönlich, steht hinter einer Batterie von Pfannen. Weihrer brät, garniert, würzt. Für ein Gespräch habe der Chef jetzt überhaupt keine Zeit, sagt die Dame an der Theke. Nächste Bestellung.

Vierbettzimmer statt Massenlager im Rotwandhaus

Man erfährt dann doch irgendwie: Weihrer führt das Rotwandhaus seit 1987, doch nach 13 Jahren Erbswurstsuppe und Schinkennudeln erinnerte er sich daran, dass er einst in Frankreich das Kochen gelernt hatte. Seitdem ist für nicht wenige Wanderer das Rotwandhaus und nicht der Gipfel das eigentliche Ziel der Wanderung. Im Hausgang hängt ein Zettel an der Pinnwand. »So schmecken die Berge« steht auf ihm. Ein Gütesiegel der Alpenvereine, das heute rund 100 Hütten tragen. Und wer nach dem Lammkarree immer noch nicht überzeugt ist, dass das Rotwandhaus hier zwingend dazugehört, sollte die Zeilen unter der Überschrift lesen:

Hier stehen die Herkunftsnachweise von Weihrers Zutaten, das Fleisch kommt aus ökologischer Herstellung vom Hof der Familie in Tirol, das Kürbiskernöl aus der Steiermark, und hinter dem Tiroler Speck steht der Hinweis: »Veredelt und geräuchert am Rotwandhaus.« Waltet hier nur ein exzentrischer Wirt? Oder sind die Ansprüche der Gäste gestiegen? Heinrich Kreuzinger vom Alpenverein fasst die Wünsche der Hüttengäste von heute so zusammen: »Mehr Komfort.« Das sei nicht auf die Küche beschränkt. »Massenlager sind nicht mehr erwünscht, die Leute favorisieren Vierbettzimmer.«

Wenn möglich, werden Hütten heute in diesem Sinne umgebaut. »Und wenn wir reichlich Wasser, Strom und eine Kläranlage haben, sollten wir dann aus ideologischen Gründen keine Duschen anbieten?«, fragt Kreuzinger und gibt gleich selbst die Antwort: »Das wäre doch absurd.« Dabei haben solche ideologischen Diskussionen durchaus Tradition. Nach langem Streit verabschiedete der Alpenverein 1923 die »Tölzer Richtlinien«. Damals setzten sich die Puristen durch und erzwangen etwa, dass komfortable Federbetten durch kratzige Wolldecken ersetzt und Grammophone verboten wurden.

Selbst 1977 galt noch die Maxime: »Hütten auf einfache Bedürfnisse abstellen.« Mit Lammkarrees im Blütenmantel hat das nicht viel zu tun. Kreuzinger hat trotzdem kein Problem mit Wanderhütten für Sonntagsausflugs-Publikum. »Viele Hütten, die uns aus alpinistischen Gründen wichtig sind, sind Zuschussbetriebe. Deshalb ist es nicht schlecht, wenn einige andere auch ein wenig Geld abwerfen.«

Der DAV sagt: Keine neuen Hütten!

Vor allem, weil seit den Siebzigern ein anderer Gedanke wichtig wurde: Die Naturverträglichkeit. In Gebieten, in denen der Mensch präsent ist, soll er möglichst wenig in das fragile Ökosystem eingreifen. »Bestehende Kapazitäten wollen wir modernisieren. Was die veränderten Ansprüche angeht – und vor allem, was den Umweltschutz angeht.« Was oft sehr teuer ist. Eine weitere Erschließung der Alpen sei aber tabu, sagt Kreuzinger. »Wir haben ein ganz klares Programm: keine neuen Hütten.« Seit 1996 gibt es ein Umweltgütesiegel, bisher wurde es 85 Häusern verliehen.

Solar- und Kläranlagen, Blockheiz- und Windkraftwerke – in die alten Häuser zog moderne Technik ein. Bei Weihrers Rotwandhaus steht ein Windrad, das alte Dieselaggregat wird nur im Notfall angeschmissen. Und um die Goûter-Hütte führen zu können, muss das Wirtsehepaar die Computeranlage, mit der die Technik ihres Hauses gesteuert wird, genauso gut kennen wie den Wetterbericht.

Komplett autarke Hütten mögen zwar aus Sicht des Umweltschützers das Ultimo sein, »doch sollten wir uns fragen, ob wir manchmal nicht etwas zu weit gehen«, sagt Kreuzinger. Je komplizierter die Technik, desto wartungsaufwändiger ist sie. Bei Häusern, die nur im Sommer geöffnet sind, wäre vielleicht die kleinere Lösung manchmal die bessere, weil Umbau und Herstellung und Errichtung der Anlagen ja auch nicht klimaneutral erfolgen. »Hightech-Häuser sind vor allem Prestigeobjekte, fast wie damals in der Gründerzeit.«

Dinieren unter Kronleuchtern in der Berliner Hütte

Denn Häuser, die zwischen den Wolken zu schweben scheinen, gab es schon lange vor dem am Mont Blanc. Eines von ihnen steht sogar seit 15 Jahren unter Denkmalschutz. Die Berliner Hütte liegt in den Zillertaler Alpen, am Talschluss des Zemmgrunds, wo früher zwei Gletscher zusammenflossen. 1878 wurde hier ein kleiner Bau errichtet, gerade mal sechs auf zehn Meter groß, unbewirtschaftet. Weil immer mehr Wanderer ins einst so stille Tal drängten, wurde in den nächsten dreißig Jahren mehrfach an-, um- und neugebaut. Das Ergebnis: eine Machtdemonstration der Reichshauptstadt, eine Art Grandhotel auf 2044 Metern, zeitweise ausgestattet mit Kegelbahn, Fotolabor, Schusterwerkstatt und eigener Poststelle.

Wenn ihre Gäste durch den Seiteneingang kommen, rät ihnen Wirtin Kerstin Schöneborn, eine patente Frau mit kurzem blondem Haar und leichtem rheinischem Zungenschlag: »Geht nochmal raus – und vorne wieder rein!« Sonst würden sich die Besucher ja um das Schlüsselerlebnis hier oben betrügen: die Eingangshalle mit Galerie, die Treppen mit roten Läufern belegt, fast wie in einem Schloss. Diniert wird im Speisesaal unter Kronleuchtern, die von der fünf Meter hohen Decke herunterhängen, schon 1909 wurden 200 Glühlampen mit Strom aus dem eigenen Wasserkraftwerk betrieben.

Der Bau ist imposant, die Aufgabe, ihn zu erhalten, auch. Seit einigen Jahren kümmert sich der Berliner Hüttenreferent Thomas Zadow um die Sanierung des Hauses, und muss jetzt mit seinem Kollegen Andreas Bien ausbügeln, was »in den Siebzigern und Achtzigern schleifen gelassen wurde«. Dass Umwelt-, Brand- und Denkmalschutz oft gegenläufige Interessen haben, ist klar. Doch manchmal nervt Zadow, dass er eine lange Tagesreise von dem Bau entfernt sitzt – zum Beispiel, wenn er mit dem Denkmalschutzamt erörtern muss, »ob die Putzfugen im Natursteinmauerwerk jetzt nach Stand von 1918 oder dem von vor ein paar Jahren zuvor« wiederhergestellt werden müssen.

Den Besuchern fallen solche Details kaum auf. Sie bestaunen den Komplex in seiner Gesamtheit, genau wie die Landschaft um ihn herum. Sie wandern zum Schwarzsee oder auf dem Berliner Höhenweg weiter zur Greizer Hütte. Sie bouldern im Klettergarten oder schnallen die Steigeisen an, um den Großen Möseler zu besteigen. Denn egal, ob Baudenkmal, futuristische Brotzeitschachtel oder Gourmet-Tempel: Die Faszination liegt nur zum Teil in den Bauten selbst, so außergewöhnlich jeder einzelne auch sein mag. Sondern vor allem in der Bergwelt – in der sie ja nicht ganz zufällig stehen.

Von Moritz Baumstieger
Zauber der Wolkenhäuser - Fotos: Club Alpine Francaise, Deutscher Alpenverein, Thilo Brunner, Peter Mathis, Bernd Ritschel, Iris Kürschner
 
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